Das erste The xx Album war für mich eine konsequente Weiterentwicklung dessen was die “Young Marble Giants” 1980 und „Everything but the Girl“ in den 90ern begannen. Skelettierte Schönheit, der geflüsterte Gesang von Romy und Oliver, kristallklare Gitarren und der Ansatz einer vehuschten Nerdigkeit. “Coexist” offenbarte nichts Neues wohl aber die Arbeiten von Jamie xx für das letzte Gill Scott Heron Werk und sein Soloalbum. “In Colors” verlötete und verschraubte Jamies‘ Trademark-Introvertriertheit mit den stilbildenden Dancegrooves der 10er Jahre.
„I see you“ liegt zwar nicht genau dazwischen, die Band bekommt aber keinen roten Kopf mehr, wenn zum Tanz aufgefordert wird. „On Hold“ hat sogar seinen verschlungenen Weg ins Format Radio gefunden. Die neuen Stücke klingen treibender, souveräner schielen immer wieder auf den Tanzfläche, wie der 8-Klässler mit der dicken Brille bei der Klassenparty. The xx haben sich weiterentwickelt ohne ihren Markenkern zu verraten und Jamie xx dürfte in der DJ-Coolness-Endabrechnung der 10er ganz oben stehen. Auch sehr schön die Reminiszenz an Kiss “Double Platinum” von 1978, das ich mir jetzt nicht mehr wg. seines Covers kaufen muss.
Dazu reichen wir: Fruchtsaftschorle und einen Fischertechnik-Baukasten
Hurrah for the Riff Raff – Navigator
Der erste Blick auf das Plattencover erweckt Assoziationen an Ziggy Stardust. Alynda Segarra posiert hell erleuchtet vor einer nächtlich, urbanen semiabgefuckten Szene. Navigator erzählt amerikanische Geschichten, erzählt die amerikanische Geschichten, die erzählt wer Amerikaner puerco-ricanischer Herkunft ist. Navigator ist dabei als Konzeptalbum angelegt. Hauptprotagonist ist Alyndas Alter Ego Navita, sie selbst lief als Teenage-Punk von zuhause weg und landete schließlich in der Bronx. Auf Navigator schafft es Segarra ähnlich wie Patti Smith ihre Stories in packende treibende Songs zu stecken und diese mit Volldampf und Herzblut zu interpretieren. Die Platte ist ein Fusionsalbum genährt von der Kraft des Punk und der Verzweiflung eines Straßenkids auf der Suche nach Identität.
Dazu reichen wir: Junk Food, irgendein pappiges Brötchen mit was Fettem dazwischen, dazu aber leckeres, eiskaltes Corona, oder zwei.
“The Gift ist eine portugiesische Pop-Rock-Band aus Alcobaça und besteht seit 1994”. So beginnt der schmale Wikipedia Eintrag zu der Band. Verfasst für deutsche sockensandalige Touristen, falls die sich mal auf einen Gig der Band verlaufen sollten. The Gift gaben übrigens ihr einziges Deutschland-Konzert 2006 anlässlich eines Spiel der portugisieschen WM-Mannschaft. Bandleader Nuno Gonçalves verbiss sich in Sao Paolo selbst als Tourist wirklich in eine Diskussion mit einem englischen Touristen. Schließlich läuft einem nicht jeden Tag ein Brian Eno über den Weg, der sich dabei auch als Produzent gewinnen lässt.
“The Altar” gibt uns den Glauben an die euphorisierende Wirkung von Pop zurück. Vielleicht sogar den Glauben an ein Amalgan aus Verliebtheit, Küssen und Windbeuteln im Frühling (Wer den Mut dazu hat, darf sich bitte blühende Kirschbäume dazu denken). Mein persönliches Highlight “Love without Violines”. Der 5 min Track verweilt bis 3:00 in einem stampfenden Elektrotrack bis Brian Eno selbst ihn implodieren lässt und in einer jubilierenden Pophymne auflöst. Im Fach Popmusik war Eno zuletzt so gut auf “Another green world”
Dazu reichen wir: Eine leichten fettreduzierten Früchtequark und zum Nachtisch Windbeutel.
Auf Produkte aus dem Hause Brainfeeder ist Verlass, vor allem bei der Auslegung und Weiterentwicklung des ollen Staubfängers Jazz. Flying Lotus hat das Genre elektronisch zerhäckselt. Kendrick Lamar nutzt ihn zum Aufpimpen von Hip Hop und Kamasi Washington nähert sich deep aber respektvoll. Thundercat hat auf all ihren Alben mitgespielt. “Drunk” sein drittes Album und klingt sehr Zukunft, und weniger nach 50er Jahre Nachtcafes und Rollkragenpullimief.
Die Musik fusst auf aufgebrochenen Gitarren und Bassakkorden, dazwischen pluckert Seventies Funk, R&B, in einem Sound wie von einem Steely Dan Album, bei dem versehentlich die Hälfte der Tonspuren gelöscht wurden. Thundercat wagt sich sogar in Richtung Yacht-Rock, nur dass dieses Schiff von einem durchknallten drogengetränkten Kapitän gesteuert wird. Drunk bietet Pupswitze ebenso wie einen Pharell Willams im flirrenden und wabbernden “The Turn Down”, der dort die aktuellen gesellschaftlichen Probleme der USA verhandelt. „One More glass to go, where this ends we’ll never know“
Dazu reichen wir: Fiese kopfwehverusachende Alkoholica und exotische Designerdrogen, die uns Glauben machen, wir wären homosexuelle Bonobos.
Brian Eno hatte der Legende zufolge während der Rekonvaleszenz nach einem Autounfall Harfenmusik gehört. Dabei kam ihm die Idee, Musik zu erschaffen, die Teil des Ambientes eines Raums ist. Musik die so funktioniert wie ein Stuhl (ohne sich drauf setzen zu können) oder ein Bild an der Wand. Seine Ambient-Serie aus den siebzigern war stilbildend für das Genre und es war mehr als logisch, dass er 2010 bei den Elektronik Veteranen vom Warp-Label signete.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, Ambient ist keine Supermarkt-Muzak, die den klaren Auftrag hat, den Verkauf von Rindernacken zu forcieren (das Kilo zu nur 1Euround99Cent). Der Verzicht auf melodische Glöckchenharmonien und Delphingeschnatter entbindet Ambient ebenso der Soundtrackfunktion fürs Hausfrauenyoga. Reflection ist ein einziger Track. 54 Minuten reine Funktionsmusik, ohne Spannungsbogen, ohne Beats und ohne Story, ohne Anfang, ohne Ende. Eno nennt Ambient auch “Thinking Musik”, so funktioniert Reflection letztendlich auch. Eine Tapete, die auf uns wirkt, ohne dass wir sie wirklich wahrzunehmen. Und wie es Tapeten so an sich haben, sollte man sie allerdings auch nicht tumb anstarren.
Dazu reichen wir: Der Conaisseur darf dazu gern einen Roten trinken und im Tapetenbuch blättern.
Rock Musik – Gute Rock Musik der 70er in der Zeit vor Punk, klang immer frisch, leicht angerotzt und war sich aber nie zu schade eine Gitarrenriff da zu pflanzen, wo es auch den nötigen Schatten spendet. Man darf sich hierzu jetzt die frühen Queen oder Suzie Quatro denken. Sheer Mag bündeln auf „Compilation“ ihre ersten EPs und brettern mit Freude am Rock und Punkpathos durch die Jahre 1972 – 1976. Die Platte riecht nach Jeansjacken, Fönfrisuren und getunten Mofas. Gibt es eigentlich irgendwo ärmellose Jeansjacken mit dem Sheer Mag Logo drauf?
Dazu reichen wir: Astra Dosenbier und halbverkohlte Bratwürste.
Darf man das? Mit einer Frozen Explosion Frisur in Pose stehen wie dereinst auf dem Abi-Ball 1984. Dazu ein unscharfes, grobkörniges Schwarzweiß Cover auf dem auch noch der Schriftzug “Desintegration” prangt. Das “Original” von Cure erschien 1989, dem Jahr als die Mauer fiel. Sänger Tobias Siebert reflektiert die Jahre und die Ereignisse seit der Wiedervereinigung. Desintegration blickt dabei auf ein immer noch (oder wieder?) zerissenes Land, eine gespaltene Gesellschaft.
Die Themen: Antidepressiva, Kinder die in Trümmern spielen, bei Regen flugunfähige Drohnen, Nationalismus. In der Songstruktur spielt der mollige Bass eine tragende Rolle für Sieberts Stimme. Desintegration ist kein Cure-Klon sondern eine Fortführung/Wiederbelebung des Genres Apocalyptic-Pop. Die Platte könnte für Deutschland 2017 das werden, was Ahonis „Hopelessness“ letztes Jahr für den Globus war. Musik zur Zeit.
Dazu reichen wir: Russische Eier in einer Vogelnestfrisur
Soul Jazz Records Presents – The Hustle
Disco und Reggae waren zwei große und unverstandene Trends in den auslaufenden siebzigern. Disco war bei den Radiomoderatoren, die noch am letzten Kater der 60er Jahre litten und auf den großen Erlöser warteten, verhasst. Heute würde man das Dissen der angeblich hedonistischen Plastikmukke getrost ins Rassismusregal stecken. Bevor die erste Punk-Platte das Presswerk verließ, spielte Don Letts im Roxy zwischen den Auftritten von The Damned und Co. die neuesten Dub und Reggae-Exporte aus Jamaica.
In Deutschland aber war Reggae wohl auch wegen der Drogenaffinität ganz klar den Resten der Hippiebewegung (Legalize it) zugewiesen. Im fernen Jamaica jedoch bestanden keinerlei Berührungsängste zwischen den Genres. Soul Jazz Records hat die mit viel Liebe zusammengestellte Compilation „Hustle“ mit Reggae-Coverversionen von Disco-Acts nun wiederveröffentlicht. Und natürlich passen die Genres zusammen und entfalten die ganzen Grandezza eines Pop-Jahrzehnts. Tracks wie „Ain’t No Stopping Us Now“ wie „Ring my Bell“ erhalten von Bands wie Blood Sisters und Risco Connection einen komplett neuen Flow.
Wir reichen dazu: Also meinetwegen dürft ihr zu der Musik gemütlich einen Dampfen und danach peinlich kichernd abdancen. Es ist ja Sommer.