Woanders is auch scheiße

Briefmarkentauschbörse im Beethoventumblr_ngzcy4ev6f1t5w736o1_1280Dieser kleine Artikel erscheint im Fanzine Daily Trash No.3. und wendet sich speziell an junge Menschen in der Adoleszenz, die ja bekannterweise ein wichtiger Bestandteil unserer Zukunft (aka Rente) sind. Trotz dieses Exclusivabdrucks befehle ich jedem Leser natürlich ein komplettes Fanzine zu kaufen.

Jeder junge Mensch kommt im Rahmen seiner Sozialisation irgendwann an den Punkt an dem er entscheiden muss, seiner Heimatstadt  (meistens im  provinziellen Kontext) treu zu bleiben oder gnadenlose Landflucht zu begehen. Wobei eine erfolgreich absolvierte Kindheit und Pubertät in einem krautwurstigen Moloch wie Villingen-Schwenningen naturgemäß eher Fluchtreflexe begünstigt.

Aber Daily Trash wäre ja nicht der große Ratgeber für Junge und Junggebliebene wenn wir auch in dieser Frage nicht eine sachbezogene Beratung parat hätten.

Was erwartet dich wenn Du in die große weite Welt ziehst?

Einen Zahn muss ich euch dazu gleich mal ziehen. 75% aller Auswanderer kommen nicht weiter als Freiburg. 12 weitere Prozent landen in vergleichbaren Semi-Metropolen, wie Deggendorf oder Bremen. Und nur 3% schaffen es bis Hamburg-Berlin-Tokio-New York. Aber zugegebenermaßen, auch wer nur bis Trossingen kommt findet ein reichhaltigeres  kulturelles Angebot als in VS vor. Aber denkt dran, irgendwann kommen die Kinder und dann heißt es: “Geil in der Volksbühne läuft das neue Henry-Rollins-Musical (bitte mit leicht berlinerndem Akzent lesen) aber weeste, bis die Kinder im Bett/ aber weeste der Babysitter/ aber weeste abends bin icke so müde….Natürlich ist es ein gutes Gefühl konsumierbare Kultur zum Greifen nahe zu haben. Aber die Veranstaltungskalender von Hamburg und Berlin kann ich im Zweifelsfall auch im Talheim oder Pfaffenweiler lesen und dann zuhause bleiben.

 

Was erwartet Dich, wenn Du in VS vor dich hinalterst?

Ein mostköpfiger Menschenschlag, den nur wirklich versteht, wer bereits in der 15. Generation hier lebt. Du kannst gern mitfeiern beim alljährlichen dubiosen Party-Höhepunkt, der Villinger Fasnacht. Einem Event bei dem gerüchterweise 1984 zum letztenmal gelacht wurde, man sagt sich,  dass dazumals ein Villinger Narro drei Schwenninger-Witze hintereinander erzählt hat, über die er dann selbst von Herzen grölen musste.

Ich konnte kürzlich in der Neckarquelle einen Leserbrief goutieren, der ein ganz besonders schrilles Licht auf den undurchdringlichen Gemütsdschungel der Menschen hier wirft. Anlässlich der Muslensanierung durften die Bürger der Stadt selbst die neuen Pflastersteine aussuchen. Und der Leserbriefschreiber veröffentlichte nun ein komplettes Gedicht über diese neuen Pflastersteine. Kein Sprüchlein! Einen richtigen Riemen Prosa, geschätze 60 Zeilen in Reimform über die neuen Pflastersteine in der Schwenninger Muslen und ihre Auswahl. Jetzt lieber Leser vielleicht eine kleine Pause einlegen. Durchatmen!

Ansonsten ist unsere Stadt immer fröhlich mit dabei wenn es um SPD-Schatzmeister geht, die Homosexualität heilen wollen, NPD-Irre, die seit 30 Jahren per Abofunktion im Gemeinderat sitzen und Typen, denen beim Gehen die Fingerknöchel am Boden entlangschleifen. Und nicht zu vergessen,die CDU und Freie Wähler Stadträte, die innerhalb von 10 Jahren zweimal die Stolpersteine abgelehnt haben, Interviewwünsche der taz und des Deutschlandfunks aber ignorierten, weil sie ihre messerscharfe Rhetorik wohl im dem Moment nicht griffbereit hatten. Na ja, oder vielleicht blinkte da doch in der hintersten Gruschtelecke der eingestaubten Gehirnwindungen ein kleines Lämplein auf, dass ihnen signaliserte, das Schweigen in diesem Falle die kleinere Pein für alle darstellt. Das hoffe ich zumindest.

Um das alles zu verstehen muss man wissen, das VS und vor allem Schwenningen im Rahmen der Industrialisierung im letzten Jahrhundert  von einem verschnarchten Bauerndorf (Ackerbau und Viehzucht) in den Zustand einer hochdynamischen boomenden Industriestadt gepimpt wurde. Aber kaum hatten sich die Bewohner an das bißchen Flair gewöhnt, kollabierte die Industrie auch schon wieder. Das Ganze dauerte viel zu kurz als dass das kollektive Gemüt sowas wie Kultur entwickeln konnte,  ging aber zu lang als dass man nicht ständig das Gefühl haben musste, dass ja früher alles viel besser war.

Kurzum,VS könnte geografisch auch in der sächsischen Schweiz oder wie man früher so schön sagte, auf der dunklen Seite des Mondes verortet sein. Warum es Sinn macht hier zu bleiben? Weil Du solange Du halbwegs bei Verstand bist, hier mit einem leicht verunsichterten Grinsen und noch öfters mit der Faust in der Tasche rumläufst. Weil Du weißt, dass Du die Sache selbst in die Hand nehmen musst.  In VS gilt das Hornbachprinzip – Mach es zu deinem Projekt (Jugendzentrum, Kult-Kneipe, Band, Fanzine, Kegelverein, Machtübernahme im Gemeinderat  etc. p.p.)

Und das hält jung, vital und ihr bleibt geistig bis in Greisenalter auf der Höhe. Weil ihr  bereit seid euer Herzblut für alles zu verschütten was bis zu 5 Menschen (und selten mehr)  in unserer Stadt begeistern könnte.  Und das lohnt sich. Wirklich.

Ach ja,

Kommt mir jetzt nicht mit Paul Pötsch, der in weite Welt zog und jetzt als Popstar durch die Decke geht. Denkt an all die gescheiterten talentfreien Existenzen, die es Jahr für Jahr an Weihnachten zurück in die Heimat verschlägt. Die ihren armen alten Eltern an Weihnachten, die Gänse vom Teller fressen und die Kneipen mit ihren alten, ödeligen, wurstfurzigen Geschichten von früher zu verstopfen.

 

Die Headline dieses Berichts ist übrigens ein Zitat vom Großvatter des Schriftstellers Frank Goosen, bezogen auf die kulturelle Trisstese des Ruhrgebiets und im speziellen von Bochum in den sechziger und siebziger Jahren.

 

 

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